Brauchen wir Musik [Unterricht]?

Brauchen wir mehr davon?

Verena Unterguggenberger hat in der CMA den Lehrgang und ihre Methode GANZ in der Musik ® etabliert. Ihr Gastartikel beleuchtet das Thema rund um den Musikunterricht, ihre Methode und das Warum.

In den letzten Jahrzehnten wurde und wird der Musikunterricht nach wie vor aus der Bildungslandschaft zurückgedrängt. Waren zu meiner Volksschulzeit noch zwei reguläre Wochenstunden Musik im Stundenplan mit dem zusätzlichen Angebot jeweils einer Chor- und einer Spielmusikstunde vorgesehen, so stehen wir jetzt vor einer starken Dezimierung. Zählt man den Besuch einer Musikschule mit dem jeweiligen Instrument und in den meisten Fällen einer wöchentlichen Ensemble-, Orchester-, Chor-, Tanz- oder Musikkundestunde dazu, so hatte ich die Möglichkeit, täglich qualitativ hochwertigen Musikunterricht zu genießen. Hinzu kommen private Angebote, die während dieser Zeit in meiner Heimat stattgefunden haben: der örtliche Blasmusikverein und der Chor mit einer zweistündigen Probe in der Woche. Dankbar und zufrieden kann ich feststellen: Ein ganzes Dorf hat mich musikalisch erzogen. Ich war allerdings kein besonderes Kind, alle Kinder des Dorfes hatten die gleichen Möglichkeiten.

DU kommt in den Unterrichtsraum und stellt das Instrument ab.

ICH improvisiert gerade mit einem anderen Schüler.

DU zeigt mit fragendem Gesichtsausdruck auf die Cajon, welche im Raum steht.

ICH bestätigt mit kurzem Nicken. Nach etwa sechs Minuten beenden die drei das Stück, wortlos und mit einer wissenden Zufriedenheit.

DU: Komm ich jetzt dran?
ICH: Ja, deine Stunde beginnt jetzt.

(Anwesender Schüler packt
zusammen und geht.)

Wozu?

Vertraut man den Aussagen der Verantwortlichen für die Erstellung von Lehrplänen und Ausbildungen bzw. die Gestaltung von Bildungsinstitutionen, könnte man meinen, dass die Reduktion des Musikunterrichts eine logische Entwicklung der Zeit sei: Jetzt braucht es mehr von etwas anderem, denn die Zeiten haben sich geändert. Jetzt brauchen wir mehr davon, was die wirtschaftlichen Lebensbedingungen erfordern. Jetzt brauchen wir mehr davon, was uns Aufschwung, Entwicklung und Fortschritt verspricht. Die Zeiten haben sich geändert, jetzt brauchen wir an die Herausforderungen und Ansprüche der Gesellschaft angepasste Skills und Tools. Die Frage »Wozu?« ist hinsichtlich dieses Blickwinkels tatsächlich mehr als berechtigt.

DU: Deine Aufgabe war komisch.
ICH: Aha, erzähl!
DU: Es war schon am Anfang komisch. Der Vorschlag war, dass wir „3, 4“ einzählen sollten, obwohl das Stück im 3er-Takt ist.
ICH: Naja, die Ansichten darüber sind verschieden.
DU (erbost): Das sind keine Ansichten, das sind Fakten!
ICH: Wie du meinst.
DU: Dann haben wir über die ta-o-a gestritten.
ICH (überrascht und ein wenig besorgt): Tatsächlich! Das war aber nicht die Absicht dieser Hausübung …
DU (ärgerlich): Du kannst ja nichts dafür! Du weißt ja, dass du eine punktierte halbe Note spielst oder gespielt hast, wenn du eine spielst. Ich weiß das auch – ich hör‘ mir ja zu. Aber nicht meine Spielpartnerin!
ICH (nach kurzem Innehalten): Weißt du, es ist schwierig, jemandem zu sagen, dass er etwas nicht richtig gemacht hat, wenn er es nicht so wahrgenommen hat.
DU: Ja, aber man kann doch nicht Musik machen, wenn man nicht zuhört oder hört oder innerlich hört oder … Ach, ich weiß nicht: Es ist komisch.

Manchmal versuche ich mir, einen Alltag ohne die Existenz von Musik vorzustellen: Ich würde in der Früh das Radio aufdrehen und die Menschen reden hören – keine Töne. Alle Werbeeinschaltungen fänden nur in beschreibenden Worten statt – keine Akkorde. Auf den Bildschirmen verschiedenster Warteplätze wie an der Haltestelle oder beim Arzt würde ich nur Bilder sehen und Sprache hören – keine Melodien. Ich bin Musikpädagogin – keine Instrumente, keine Stimme, keine Schüler/innen, kein Job. Beim Einkaufen würde ich nur den Geräuschpegel sprechender Leute, herumgeschobener Einkaufswagen, das Piepen an der Kassa wahrnehmen – keine Harmonien. Ich würde meinen MP3-Player nur für Podcasts verwenden – keine Lieder. Ich würde Filme und Sendungen im TV nur mit vorüberlaufenden Bildern und erklärenden Sätzen aufschnappen – keine Rhythmen. Ich würde in ein Konzert gehen wollen und feststellen, dass es keines gibt – keine Musik. In diesen Momenten läuft mir die Gänsehaut über den Rücken. Da wird mir schlagartig bewusst, wie sehr Musik Teil meines Lebens ist und welcher Bereich von mir als Mensch hier angesprochen wird: Musik ist viel mehr als Background-Berieselung.

ICH: War das alles, was passiert ist?

DU: Nein. Mit dem Rhythmus hat es nicht geklappt. Eh logisch, wenn der Puls nicht da ist! Ich hab‘ versucht, nachzugeben, aber irgendwann ging‘s dann überhaupt nicht mehr. „Wir müssen das Stück halt gut üben.“, hab‘ ich dann gehört. Nützt da das Üben?

ICH: Möglicherweise, wenn gewisse Erkenntnisse stattfinden …

DU: Ich wollte dann gleich einen Improvisationsteil hinterher spielen. Das macht man doch so, oder? Wir machen das immer, das ist ja eigentlich der Sinn der Sache, oder? Ich bin mir jetzt nicht mehr sicher, weil das hat überhaupt nicht geklappt: Es war nicht möglich. Alleine das Wort hat man nicht verstanden – was man da tut, schon gar nicht … Also, warum hab‘ ich eine so blöde Aufgabe bekommen? Du musst gewusst haben, dass ich scheitern werde. Aber ich weiß, dass jede deiner Aufgaben Sinn macht. Also, klär mich auf!

ICH (verschmitzt lächelnd): Weißt du, du hast in dieser Aufgabe alles gemacht, was ich von dir wollte. Du hast probiert, ein Stück mit jemandem zu spielen. Du hast eine Vorstellung vom Stück, weil du es selbst lesen kannst und die Musik darin verstehst. Du hast alle Fertigkeiten, es mit deinem Instrument umzusetzen. Du bist fähig, auf deine Spielpartnerin einzugehen, nachzugeben und zu gegebenener Zeit zu führen. Und deine Spielpartnerin hat diese Qualitäten nicht. Diese Aufgabe war für dich, um zu erfahren und darüber nachzudenken, was es bedeutet, Kompetenzen zu haben.

Musik ist, ob wir das wahrhaben wollen oder nicht, ein Teil unseres Menschseins, der wesentliche Teil unseres Menschseins. Jener Teil, den wir weder sehen noch angreifen können, jener Teil, den wir erst durch das Zulassen unterschiedlicher Wahrnehmungsaspekte erleben, erfahren und begreifen können. Wenn wir davon ausgehen, dass wir nicht nur aus Körper und Geist bestehen, sondern auch aus einer unbändigen Kraft des Leben- und Überlebenwollens, einer unsichtbaren Energie, die uns inspiriert und beflügelt, einem Antrieb, der uns begeistert und fasziniert, dann können wir beginnen zu verstehen, was Musik für den Menschen ist: nämlich der dritte Teil, die Seele.

DU (ungläubig): Also habe ich „Kompetenzen“? (lacht) Ein schrulliges Wort. Das klingt so überhaupt nicht nach Musik …

ICH: Es drückt aus, was du weißt, kannst und willst. Praktisch, am Instrument, mit deiner Persönlichkeit.

DU (mit überdrehenden Augen und leicht süffisantem Unterton): Okay, ich versteh‘. Ich bin kompetent – trotzdem schrullig.

ICH: Und du wirst dir heute noch selbst zeigen, welche Kompetenzen du noch hast …

DU: Dann los: Her mit meinen Kompetenzen!

DU bekommt drei Stücke zur Auswahl. Sie stellen das Übungsfeld dar, das jetzt vertieft werden soll, nachdem in der letzten Stunde die Erkenntnisse dafür erarbeitet wurden. Alle Stücke werden von DU kurz durchgeschaut. Man hört ein leichtes Summen und sieht leichtes regelmäßiges Wippen mit dem Körper und Bewegungen einzelner Finger.

DU:  Welches soll ich spielen?

ICH: Welches du möchtest.

DU:  Also, das da ist leicht: Da kommt die neue Note nur 2-mal vor. Wie war das noch? ta-i ti ? Erinnert mich an Tahiti. Machen wir gerade in Geo.
Das da ist schwieriger, da hab ich 2 Versetzungszeichen. Kann ich sie mir braun anmalen, damit ich nicht vergesse, dass ich sie tiefer spielen muss?

ICH: Ja, das kannst du gerne machen, wenn du es brauchst.

DU:  Das dritte Stück find‘ ich am interessantesten. Da kommt die neue Note ganz oft vor. Schau mal da, auch umgekehrt: ti vor dem ta-i. Wie geht das?

ICH: Wie bist du vorgegangen, als du die punktierte Viertelnote erkannt hast? Aus was besteht sie?

DU:  Naja, aus ta und ti ti und dann Haltebogen.

ICH: Naja, dann …

DU:  Ach so, bloß umgekehrt. Machen wir heute die Anfangsimpro mit diesem Rhythmus.

ICH: Das wollte ich dir gerade vorschlagen.

Mehr Musik zu machen, mehr Musikunterrichte zu installieren, kompetente Pädagogen auszubilden oder eben nicht, sind meiner Auffassung nach nicht jene Punkte, denen wir uns vordergründig widmen müssen. Die grundsätzliche Frage lautet: Wozu brauchen wir Musik denn überhaupt? Welchen Wert geben wir ihr in Bezug auf unser gesellschaftliches Miteinander? Welchen Anteil hat sie am Mensch-Sein? Die zuvor skizzierten Bilder »Was wäre, wenn es keine Musik gäbe?“ hinterlassen in mir verstörende, betroffene und beklemmende Gefühle. In mir bleibt eine Leere, die zuweilen verzweifelt nach einer Lösung sucht. Keine Musik mehr zu hören bedeutet, einen wichtigen Teil in mir nicht mehr zu fühlen. Keine Musik mehr zu machen bedeutet, jenen Teil nicht mehr leben zu lassen. Und wie sieht es aktuell aus: Alle Musik ist abrufbar, fertig, jederzeit an jedem Ort, die kleine Box singt heuer die Weihnachtslieder, für den Aufmarsch der Blaskapelle beim Jubiläum stellen wir eine zehn Mal zehn Meter große Leinwand auf und schauen uns musikalisch digitalisierte Pixel an; nur blöd, wenn gerade ein Stromausfall herrscht …

ICH fragt nach Tempo, Takt und Tonumfang, schaut sich die Töne im Stück an und beginnt mit einem Akkordriff. DU steigt ein und übt besprochenes Feld.

DU: Ich glaub‘, ich hab’s!

ICH: Es hört sich für diesen Moment so an. Nimm das mit in deine nächste Woche und wir schauen dann, wie es sich entwickelt hat. Vielleicht schärfen wir nach, vielleicht ist es schon stabil.

Du (etwas genervt): Ja, ich weiß. Warten wir ab, wie meine Synapsen tun …

Ich (lacht laut): Du hast es tatsächlich verstanden: Hier wird nicht gelehrt, sondern gelernt.

Du (äfft nach): Ich bin ja schließlich kompetent!

ICH: Das denke ich auch. Meinst du, dass du mit den Stücken zurechtkommst? Ich hab‘ sie dir nicht vorgespielt.

DU: Ich verstehe, was da steht. Ich höre die Melodie im Kopf. Ich weiß, wo die Töne am Instrument sind. Ich kapier‘ den Rhythmus. Was soll da noch schiefgehen? Ich bin ja kompetent. Weißt du, jetzt kann ich verstehen, dass es echt schlimm ist, wenn man nicht kompetent ist. Da ist man ja voll abhängig vom Lehrer.

ICH (fällt ins Wort): Moment mal, keine vorschnellen Urteile! Lernen passiert auf vielfältige Weise. Auch durch ein Vor-Nachmach-Lernen lernt man etwas. Die Frage ist: Was? Und: Möchte man das als Pädagogin?

DU: Also, ich bin ein kompetentes Kind und möchte kompetent unterrichtet werden.

ICH: Naja, du warst nicht immer kompetent. Am Anfang hast du dir …

DU: … ja, ich weiß. Das war komisch mit deinen ganzen Fragen. Und immer musste ich gleich etwas machen, obwohl ich’s eigentlich nicht konnte.

ICH: Der Punkt ist, dass ich dich immer aufforderte, mit dem, was du gerade konntest, zu arbeiten. So haben sich deine Fertigkeiten unglaublich schnell entwickelt. Weil du es immer selbst getan hast, bist du jetzt kompetent.

DU: Interessant. Und jemand, der das nicht macht, ist dann nicht kompetent?

ICH: Eher nicht. Aber wie gesagt, Lernen passiert unterschiedlich.

DU: Dann bin ich aber mordsmäßig kompetent. Gibt es eine Kompetenz, die ich noch nicht habe?

ICH: Mal überlegen. Es gibt Töne, die du noch nicht kennst. Es gibt rhythmische Zeichen, die du noch nicht einordnen kannst. Es gibt ein paar Musikstile, die du noch nicht kennengelernt hast. Ich glaube, ein paar Dinge könntest du schon noch entdecken in meinem Unterricht …

DU: Bin ich froh, dass ich noch nicht kompetent genug bin. Denn sonst könnte ich nicht mehr zu dir kommen. Bist du eigentlich auch kompetent?

ICH: Mmmm. Ich meine, dass ich eine Reihe von Kompetenzen habe. Manche gut entwickelt, manche nicht so gut. Manche würde ich gerne noch ausbauen, manche sind wahrscheinlich fertig.

DU: Kann ich dir auch welche beibringen?

ICH: Weißt du, jedes Mal, wenn wir gemeinsam Musik machen, schärfst du meine Kompetenz des Miteinandermusizierens. Du forderst meine Kompetenz des genauen Beobachtens und des Diagnosestellens. Du förderst meine Kreativität beim Komponieren – deine Stücke müssen schon halbwegs ordentlich sein, sonst sprechen sie dich nicht an. Also, ich glaube, du bringst mir auch Kompetenzen bei.

DU: Das find‘ ich schön. So hast du auch etwas von mir.

Musik ist ganzheitlich. Sie verbindet Körper (Bewegung, Tanz), Geist (Denken, Sprache, Sehen, Hören) und Seele (Spüren) und vereinheitlicht auf einfachste Art und Weise nachhaltig alle drei Elemente. Sie macht uns Menschen vollkommen, es bleibt kein Rest, es bleibt nichts unbeachtet übrig. Sie entspricht uns Menschen bedingungslos, weil wir ganzheitliche Wesen sind. Keine Musik oder keine Musikunterrichte in unserer Gesellschaft würden bedeuten, die Verantwortung dafür zu übernehmen,
dass der Mensch nicht Mensch wird und bleibt. Das würde bedeuten, den Kulturbetrieb an die Wand zu fahren. Jenen Bereich, der uns die Möglichkeit bietet, zu lernen sowie uns selbst und dem Gegenüber wertfrei kritisch zu begegnen. Vielmehr bedeutet es für die Dekonstruktion des Menschseins bzw. den Abbau der Möglichkeiten, Menschsein zu entwickeln, verantwortlich zu sein.

Brauchen wir Musik(unterricht)?
Brauchen wir mehr davon?
Wovon brauchen wir mehr?

Ich meine, wir brauchen mehr Musikunterrichte, die das eigene Tun zulassen, damit man sich selbst im Tun entdecken, erfahren und erkennen kann. Ich denke, wir brauchen mehr Musikunterrichte, die Material zur Bewusstwerdung anbieten und Kreativität fordern. Ich bin davon überzeugt, dass wir mehr Musikunterrichte brauchen, die das Schriftbild als logische Konsequenz aus den vorangegangenen Schritten begrüßen, die Komposition als Verschriftlichung der Improvisation verstehen und als das Bindeglied in die Selbstständigkeit schätzen, welche sie darstellt. Wir brauchen GANZheitlichen Musikunterricht. Wir brauchen ein ICH und DU. Musik zu machen, ein Instrument zu spielen oder seinen Körper als Instrument zu nützen ist die komplexeste Tätigkeit, die wir Menschen bewerkstelligen können. Wenn es gelingen soll, brauchen wir eine Einheit aus Körper, Geist und Seele. Das Wahrnehmen von Musik wird im Gehirn verarbeitet, regt den Geist an und mündet im Gefühl – wir nennen es das Innere
Hören. Wir brauchen das Innere Hören, damit wir uns als Individuen der Gesellschaft zur Verfügung
stellen können.

Mich hat ein Dorf erzogen, ich bin Mensch geworden.

Wozu?

Weil.

Verena Unterguggenberger

Verena Unterguggenberger, Pädagogin, Referentin, Autorin, Komponistin und Verlagschefin, ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann und ihren gemeinsamen vier Kindern im Lesachtal. Bei all ihren umfassenden Tätigkeiten ist ihr die Weitergabe ihres Wissens die liebste, sagt sie, »denn nur die vernetzende Kraft bringt uns zueinander und zusammen weiter«.